Zurück in die Fruchtbarkeit - Rund um die Stillzeit

Wie beeinflusst das Stillen die Fruchtbarkeit? Und: Wie kann eine natürliche Familienplanung in der Stillphase funktionieren?

Stillen: Mehr als eine perfekte Baby-Nahrung

Stillen ist wieder in. Nachdem Generationen von Müttern sich in Sachen Babyflasche, Desinfektionsbehälter, Trockenpulver und Beikost weitergebildet haben, ist Stillen wieder Thema in Entbindungskliniken, Geburtshäusern und in der Geburtsvorbereitung.
Das ist aber auch kein Wunder. Nicht wegen der Ökowelle, die schon wieder im Abklingen ist, sondern weil mit keinem noch so technisch ausgeklügelten System stets pünktlich ausreichend warme, keimfreie, Nährstoff reiche und auf den kindlichen Bedarf abgestimmte Babynahrung kostenlos und frei Haus geliefert werden kann: ob am Strand, im Airbus, bei der Mitternachtsfete oder ganz schlicht zum Frühstück.
Stillen hat aber noch andere Vorteile. Es fördert die Rückbildungsvorgänge im Wochenbett, schützt das Kind in den ersten Lebensmonaten vor vielfältigen Erkrankungen und „zieht“ den Zeitpunkt der Rückkehr der mütterlichen Fruchtbarkeit in die Länge, was zu anderen Zeiten und heute noch in vielen Kulturen der die Familiengröße bestimmende Faktor war und ist.

Von Kirchenregistern und Grabsteinen

Wer sich die Zeit nimmt, ob in der eigenen Familie oder im Freundeskreis, Ahnenforschung zu betreiben, wird feststellen, dass die Geburtenabstände vor zwei- bis dreihundert Jahren bei zwei bis drei Jahren lagen - vorausgesetzt, die junge Mutter hatte keine Amme für die Kinder engagiert – so wie Kaiserin Maria Theresia, die zwischen 1737 und 1756 in fast einjährigen Abständen 16 Kindern das Leben schenkte.
Mit der einsetzenden „Stillrenaissance“ und den aufkommenden Fragen zur „kontrazeptiven Potenz“ des Stillens in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts haben sich auch Forscher intensiver mit der Frage „Stillen und Fruchtbarkeit“ befasst und in alten Tauf- und Sterberegistern nach Hinweisen geforscht, Friedhöfe besucht, Grabsteine gelesen und Geburts- und Sterbedaten verglichen. Dabei zeigte sich, dass immer dann, wenn eine Mutter wegen Totgeburt oder Kindstod in den ersten Lebensmonaten gar nicht oder nur kurz stillen konnte, das nächste Kind in relativ kurzem Abstand geboren wurde.
Doch nicht nur standesamtliche Daten lieferten Hinweise auf den fruchtbarkeitsunterdrückenden Effekt des Stillens, sondern auch Beobachtungen an Naturvölkern. Die wohl am intensivsten untersuchte Population sind die !Kungs, die als Jäger in der Kalahari leben. Dort tragen die Mütter von Geburt an ihre Kinder in einer Art Känguru-Beutel vor sich her und lassen ihre Kinder so oft saugen und trinken wie es ihnen gefällt, bis zu 48-mal in 24 Stunden wie Wissenschaftler beobachtet haben. Der Erfolg: ein natürlicher Geburtenabstand - ohne jede Form der Verhütung und ohne Stilltabus - von ca. vier Jahren.

Von Stilltabus und andere Gewohnheiten

Die Beschäftigung mit dem Stillen führt jeden und jede, die tiefer in das Thema einsteigen, unweigerlich auch zu der Frage: Haben die Frauen wegen des Stillens ihre Kinder in zwei- bis dreijährigen Abständen geboren oder waren sie schon wieder fruchtbar und durften nur keine sexuellen Kontakte haben?
Von den !Kungs ist bekannt, dass sexuelle Kontakte während der Stillzeit nicht verboten sind, ganz im Gegensatz zu den Indios des Chaco, die dort noch naturverbunden in der schlangenreichsten Wüste der Welt leben.
Im Chaco wird von einer Mutter erwartet, dass sie ihr Kind mindestens sechs Monate voll stillt und in dieser Zeit einen eigenen, vom Partner strikt getrennten Schlafplatz hat, so dass sexuelle Kontakte nicht stattfinden können. Nach sechs Monaten wird das Kind dann allmähliche an andere Nahrungsmittel gewöhnt und abgestillt. Auch hier sind die Geburtenabstände verlängert, nur lässt sich schwer sagen, was was bewirkt.

Die Preisfrage: Beeinflusst Stillen die Fruchtbarkeit? Und wenn ja, wie?

Erst relativ spät, vor etwa 30 Jahren, ist das entscheidende, mit dem Stillen und der Fruchtbarkeit in Verbindung stehende Hormon Prolaktin entdeckt worden. Dass es überhaupt mit Fruchtbarkeit und Milchbildung zu tun haben musste, legten Beobachtungen an Tumorpatientinnen nahe. Frauen mit einem Prolaktin produzierenden Tumor der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) hatten gehäuft Milchbildung, auch ohne Schwangerschaft und Stillzeit, und vor allem keinen Zyklus. Mit erfolgreicher Therapie und sinkenden Prolaktinspiegeln setzte dann der Zyklus wieder ein.
Da in der Stillzeit zwar Milch produziert wird, aber kein Prolaktin produzierender Tumor vorliegt, war die Frage: Ist das Prolaktin auch in der Stillzeit erhöht? Wenn ja, wie lange und was bewirkt das?

Forschung rund ums Stillen

Mit wissenschaftlichen Untersuchungen zu dieser Fragestellung sind heute international vor allem vier Namen verknüpft: Dr. Anna Glasier aus Schottland, Prof. Barbara Gross aus Australien, Dr. Suzanne Parenteau-Carreau aus Kanada und Prof. Alfredo Perez aus Chile. Alle vier legten große Feldstudien zum Stillen auf und korrelierten die unterschiedlichsten Beobachtungen zum Stillverhalten mit dem Zeitpunkt der wiedereinsetzenden Fruchtbarkeit. So versuchten die UntersucherInnen festzustellen, ob nächtliches Stillen einen Effekt hat; wie sehr die Ernährung der Mutter das Wiedereintreten des Zyklus bestimmt; wie sich die reine Anlegezeit des Kindes an der Brust auswirkt; ob die Zahl der Stillmahlzeiten eine Rolle spielt, das Geschlecht des Kindes, sein Platz in der Geschwisterreihe und ob ein bestimmtes Fruchtbarkeitsmuster sich im Laufe der Stillzeiten bezogen auf die einzelne Frau wiederholt.
Parallel zur Dokumentation der Stillmuster bestimmten die WissenschaftlerInnen Prolaktin im Serum, erfassten Blutungsparameter und zählten die Zeitpunkte erneuter Schwangerschaften bei bestimmten Stillmustern.

Am Ende stellten sie einige bis heute allgemein gültige Aussagen auf:

  1. Stillen beeinflusst den Zeitpunkt der Wiederkehr der Fruchtbarkeit
  2. Entscheidend ist die Stillfrequenz, also wie häufig das Kind innerhalb von 24 Stunden von der Mutter angelegt wird.
  3. Die Dauer des Stillens an sich – ob zehn oder 30 Minuten pro Mahlzeit - ist ohne Effekt auf die Fruchtbarkeit.
  4. Nächtliches Stillen verstärkt den Effekt, allerdings kann sehr häufiges Stillen über Tag die fehlende nächtliche Stillmahlzeit kompensieren.
  5. Bei vollem Stillen liegt die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, in den ersten 10 Wochen nach der Geburt eines Kindes bei unter 1%; in den ersten sechs Monaten nach der Entbindung ist sie höchstens 2%, vorausgesetzt, bestimmte Bedingungen werden erfüllt (vgl. LAM).
  6. Je länger die Entbindung zurück liegt, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Fruchtbarkeit wieder einsetzt.
  7. Setzt der Zyklus relativ früh wieder ein, geht oft der ersten Blutung kein Eisprung voraus. Je später allerdings die Blutung auftritt, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass ohne Vorwarnung durch eine Blutung ein Eisprung auftritt.
  8. Manche Frauen müssen komplett abgestillt haben, ehe ihr Zyklus wieder einsetzt.
  9. Das Prolaktin ist bei vollem Stillen während der ersten zehn bis zwölf Wochen nach der Entbindung stark erhöht und bildet sich dann langsam zurück. Wenn ein kritischer Wert unterschritten wird, der individuell sehr unterschiedlich sein kann, setzen Zyklus und Fruchtbarkeit wieder ein.

Fragestunde: Wann weiß eine stillende Frau, ob sie wieder fruchtbar ist?

Kinder würden sagen: “Wenn sie wieder schwanger ist!“, Erwachsene:“ Wenn der Zyklus wieder eingesetzt hat.“
Beides ist richtig; doch für die einzelne Frau bleibt das Problem, rechtzeitig zu wissen, ab welchem Zeitpunkt sie wieder mit einem Eisprung rechnen und sich gegebenenfalls entsprechend verhalten muss. Schließlich kann der erste Eisprung nach einer Entbindung ohne jede vorausgehende Blutung stattfinden, was dazu führt, dass einige Frauen berichten, zwischen zwei Geburten nicht eine einzige Monatsblutung erlebt zu haben.

Zeichen der Fruchtbarkeit und NFP

Nicht nur erfahrene NFP Anwenderinnen wissen, dass sich Fruchtbarkeit in aller Regel durch Zervixschleimveränderungen, aber auch durch Veränderungen in Konsistenz und Öffnung des Gebärmutterhalses ankündigt und dass nach einem Eisprung eine erhöhte Basaltemperatur beobachtet werden kann.

Leider ist es in der Stillzeit nicht für jede Frau gleich einfach, diese Beobachtungen zu erfassen.
Wie Untersuchungen gezeigt haben, können etwa ein Drittel der Stillfrauen an ihrem Zervixschleimmuster sehr deutlich Fruchtbarkeitsmuster erkennen und auswerten, ein Drittel hat gelegentlich Problem und ein Drittel kommt so gut wie gar nicht zurecht.
Die Basaltemperatur ist zwar, wenn der erste Eisprung auftritt, klar und eindeutig in der Anzeige, hilft aber nicht in der Phase, in der auf den ersten Eisprung gewartet wird. (Nähere Erläuterungen zur NFP Methode: Natürlich und sicher; Ein Leitfaden; Trias Verlag). Deshalb können auch Temperaturcomputer erst nach Etablieren des Zyklus wieder eingesetzt werden.
Für die Frauen, die gut zurecht kommen, ist NFP in der Stillzeit die Methode der Wahl. Sie ist gesund, gut verträglich für Mutter und Kind und zeigt wie ein Fruchtbarkeitsbarometer der Frau ihren Fruchtbarkeitsstatus an. Für Frauen, die eventuell andere Familienplanungsmethoden bevorzugen, ist die NFP eine kostengünstige Lösung für den Übergang, zeigt sie doch der Frau an, ab wann eine Regulierung der Fruchtbarkeit überhaupt erst wieder nötig wird.
Für alle Frauen aber, die sich erst einmal gar nicht so richtig um ihre Fruchtbarkeit kümmern und mit Genuss voll stillen wollen, ist in den 80er Jahren auf der Grundlage eines Arbeitstreffens in Italien die LAM Methode entwickelt worden.

Italien und die Fruchtbarkeit

Bei einem wissenschaftlichen Treffen in Bellagio/Italien haben im Jahr 1988 Wissenschaftler aus aller Welt unter der Leitung von WHO, UNICEF und FHI (Family Health International) ihre Erkenntnisse zur Interaktion von Fruchtbarkeit und Stillen zusammengefasst und ein Consensus Statement (Bellagio Consensus) erarbeitet:

„Wenn eine Mutter ihr Kind voll oder fast voll stillt und noch keine Blutung hat (Amenorrhoe), gewährt das Stillen während der ersten sechs Monate einen mehr als 98%igen Schutz vor einer Schwangerschaft.“
Daraus haben dann nur ein Jahr später Spezialisten um Dr. Miriam Labbok/Georgetown Universität Washington die LAM Methode „geboren“, die in den folgenden Jahren immer wieder auch in Deutschland wissenschaftlich untersucht worden ist und heute weltweit zu den Standardangeboten in der ärztlichen Sprechstunde gehört.

LAM oder Lactational Amenorrhoea Method oder stillbedingtes Ausbleiben der Regelblutung

LAM ist vor allem eine Methode für Frauen, die ihr Kind längere Zeit stillen wollen. Unter folgenden Bedingungen können sie LAM anwenden:

  1. Die Frau hat noch keine Regelblutung.
    Unter Regelblutung wird hier eine Blutung von mindestens 2 Tagen Dauer verstanden oder 2 Tage Schmierblutung plus 1 Tag richtige Blutung oder 3 Tage Schmierblutungen.
    Blutungen, die innerhalb der ersten 8 Wochen nach der Entbindung, also im „Wochenbett“ auftreten, werden nicht berücksichtigt!
  2. Die Frau stillt voll oder nahezu voll.
    Unter vollem Stillen wird bei LAM verstanden, dass keine andere Flüssigkeit oder Nahrung dem Kind zusätzlich gegeben wird.
    Nahezu volles Stillen besagt, dass im ersten Lebensmonat bis zu 30 ml Zufütterung pro Woche toleriert werden, im zweiten Monat bis zu 60 ml pro Woche, im dritten Monat 90 ml pro Woche, etc.
  3. Die Frau stillt innerhalb von 24 Stunden mindestens 10 mal kurz oder 6 mal intensiv.
    Kurzes Stillen heißt, dass das Kind noch mindestens 4 Minuten lang nach Auslösen des Milchspendereflex gestillt wird.
  4. Das Kind ist jünger als 6 Monate, das heißt, die Entbindung liegt weniger als 6 Monate zurück.

Sobald diese Bedingungen nicht mehr gegeben sind, die Frau weniger stillt, Blutungen im oben beschriebenen Umfang auftreten oder das Kind 6 Monate alt wird, muss die Frau sofort Fruchtbarkeit annehmen und mit Hilfe der in der NFP üblichen Körperbeobachtungen Anfang und Ende ihrer fruchtbaren Phasen bestimmen oder auf andere Methoden ausweichen.

Ist Familienplanung in der Stillzeit überhaupt ein Thema?

Lange haben sich nicht nur die Gelehrten auf den Standpunkt zurückgezogen, dass sexuelle Kontakte vor allem bei voll stillenden Frauen zwar kein Tabu sind, dass die Frauen aber wegen der engen körperlichen Beziehung zum Kind und der Belastung durch die Versorgung des Kindes an sexuellen Aktivitäten eigentlich gar nicht interessiert sind und von daher die Frage der Familienplanung eine eher untergeordnete Rolle spielt.
Im Rahmen einer Dissertation im Forschungsprojekt NFP an der Universität Düsseldorf zeigte sich, dass etwa die Hälfte der befragten Stillfrauen innerhalb der ersten acht Wochen nach der Entbindung wieder sexuellen Kontakt aufgenommen hatten, eine Frau sogar direkt in der ersten Woche. Ca. 50% der Frauen gaben eine reduzierte Libido nach der Entbindung an, andere berichteten von einer gleich bleibenden oder sogar gesteigerten Libido. Ein buntes Bild!

Ergo?

Mit der Sexualität in der Stillzeit ist es wie auch sonst im Leben. Es gibt fördernde und hemmende Faktoren, wobei die Ausprägung und auch Auswirkung sehr stark von individuellen Faktoren abhängig ist. ÄrztInnen, BeraterInnen und Hebammen tun gut daran, sich auf die jeweils individuellen Gegebenheiten einzustellen und den Paaren dabei ihren persönlichen Gestaltungsraum zu überlassen.

Ursula Sottong

Lactational Amenorrhoea Method

  • Bei korrekter Anwendung bietet LAM in den ersten 6 Monaten nach der Entbindung einen Empfängnisschutz von mindestens 98%. Danach nimmt der Schutz ab.
    "Korrekte Anwendung" heißt: Sie haben noch keine Regelblutung;
  • Sie stillen ausschließlich oder fast ausschließlich, das heißt, dass das Kind praktisch nur Muttermilch erhält
  • Das Kind bekommt keinen Schnuller oder Teefläschchen
  • Das Kind erhält mindestens sechs Stillmahlzeiten pro Tag oder mehr
  • Der größte Abstand zwischen zwei Stillmahlzeiten beträgt nicht mehr als sechs Stunden
  • Das Kind ist jünger als 6 Monate
Quelle: NFP-Journal